Hat jede Gemeinde das Recht auf ein eigenes Urteil?
Über Autorität und Unfehlbarkeit

John Nelson Darby

© CSV, online seit: 15.01.2006, aktualisiert: 11.10.2016

Man begründet oft das Recht auf ein privates, eigenes Urteil damit, dass die Autoritäten, denen man gehorchen soll, alles andere als unfehlbar seien; aber dies ist nur ein Stück armer und offenkundiger Spitzfindigkeit (Sophisterei), indem man Autorität mit Unfehlbarkeit verwechselt. In Hunderten von Beispielen, wo keine Unfehlbarkeit vorliegt, ist dennoch Gehorsam klares Gebot. Wäre es nicht so, so würde es, wie man leicht einsehen wird, keinerlei Ordnung in der Welt geben. Es gibt in ihr keine Unfehlbarkeit, aber es gibt eine Menge Eigenwillen, und wenn es keine Verpflichtung zum Gehorsam, keine Unterordnung unter getroffene Anordnungen gäbe, weil es eben keine Unfehlbarkeit gibt, so wäre dem Eigenwillen keine Grenze gesetzt, und es würde keine allgemeine Ordnung bestehen können. Es ist nicht eine Frage der Unfehlbarkeit, sondern der Kompetenz, der Befugnis. Ein Vater ist durchaus nicht unfehlbar, aber er hat eine von Gott verliehene Autorität, und Unterwerfung ist eine Pflicht. Ein Richter ist nicht unfehlbar, aber er hat in den Fällen, die seiner Rechtsprechung unterworfen sind, Autorität und Zuständigkeit. Es mag Hilfsmittel gegen einen Missbrauch einer Autorität, in gewissen Fällen sogar die Pflicht zu ihrer Missachtung geben, wenn die höhere Autorität Gottes und seines Wortes das Gewissen dazu nötigt. Dann gilt: „Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen“ (Apg 5,29). Aber nie wird in der Schrift dem menschlichen Willen als solchem Freiheit gewährt; vielmehr sind wir zum Gehorsam Jesu Christi geheiligt. Und dieser Grundsatz, nämlich in einfältigem Gehorsam den Willen Gottes zu tun, ohne jede abstrakte Frage, die sich ergeben mag, lösen zu wollen, ist der Pfad des Friedens.

Der Anspruch auf ein eigenes Urteil ist daher nichts als bloße Spitzfindigkeit, die nur den Wunsch nach einem freien Willen und das Selbstvertrauen verrät, dass das eigene Urteil all dem weit überlegen sei, was schon andere geurteilt haben. Auch in der Versammlung Gottes gibt es richterliche Autorität. Gäbe es sie nicht, so würde sich die schrecklichste Ungerechtigkeit auf Erden ergeben; denn es würde so auf jedes Böse das Siegel des kostbaren Namens Christi gesetzt werden. Aber die richterliche Autorität wird im Gehorsam gegen das Wort Gottes ausgeübt. „Ihr, richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die aber draußen sind, richtet Gott; tut den Bösen von euch selbst hinaus“ (1Kor 5,12.13). Und ich wiederhole, würde das nicht getan, so würde die Versammlung Gottes jede Schändlichkeit von Sünde billigen; und ich betone nachdrücklich, dass andere Christen gehalten sind, das, was getan wurde, zu respektieren. Natürlich gibt es in der Versammlung Gottes Hilfsmittel gegen fleischliche Handlungen; sie bestehen in der Gegenwart des Geistes Gottes inmitten der Heiligen und in der überragenden Autorität des Herrn Jesus Christus. Aber das Hilfsmittel besteht keineswegs in dem schriftwidrigen und erbärmlichen Anspruch, dass jeder, dem es gerade in den Kopf kommt, die Kompetenz hat, für sich selbst und unabhängig von dem zu urteilen, was Gott eingesetzt hat. Das wäre nichts anderes als Unabhängigkeit: Die eine Gruppe von Christen ist als Vereinigung auf freiwilliger Basis unabhängig von jeder anderen. Das ist schlicht die Leugnung der Einheit des Leibes und der Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes in ihm.

Nehmen wir an, in einer einheitlichen Organisation (z.B. einer politischen Partei) würde eine Person gemäß den Regeln dieses Systems von der örtlichen Gruppe ausgeschlossen. Gesetzt weiterhin den Fall, das Urteil wird als unrecht angefochten und man geht nicht zu dieser Gruppe, um den Fall zu überprüfen, sondern jede andere Gruppe nimmt die Person aufgrund ihrer eigenen, unabhängigen Autorität auf oder auch nicht, so ist es klar, dass die Einheit des ganzen Systems dahin ist: Jede örtliche Gruppe ist eine unabhängige Körperschaft, die für sich selbst handelt. Es ist bei solcher Vorgehensweise nutzlos, ein geschehenes Unrecht vorzuschützen oder die Tatsache ins Feld zu führen, dass die Gruppe nicht unfehlbar sei; die zuständige Autorität der örtlichen Gruppen und die Einheit des Ganzen ist am Ende, das System aufgelöst. Es mag für solche Schwierigkeiten Vorsorge getroffen werden – schon gut, wenn es notwendig ist. Aber das beabsichtigte Hilfsmittel würde nur dahin führen, den Anspruch der aufsässigen Gruppe auf Vorrang zu bestätigen und die ganze Organisation aufzulösen.

Nun, ich verwerfe offen und absolut, dass sich eine Kirche oder Versammlung das Recht anmaßt, eine andere zu richten; aber was wichtiger ist, es ist eine schriftwidrige Leugnung der ganzen Struktur der Versammlung Gottes. Es ist Unabhängigkeit, ist ein System, das ich seit vierzig Jahren kenne und dem ich nie beitreten würde. Wenn die Leute dieses System lieben, mögen sie dorthin gehen! Es ist nutzlos zu behaupten, dass dies nicht Unabhängigkeit sei. Unabhängigkeit bedeutet einfach, dass jede Versammlung für sich selbst, unabhängig von einer anderen, handelt. Die Versammlung ist nicht ein System auf der Basis der Freiwilligkeit. Sie wird nicht durch eine Anzahl unabhängiger Körperschaften gebildet, von denen jede für sich handelt. Niemand träumte je davon, dass Antiochien die Nationen einlassen könnte, und Jerusalem täte es nicht. Nicht die geringste Spur solcher Unabhängigkeit und Unordnung finden wir in der Schrift. Dafür finden wir jeden möglichen Beweis in Lehre und Praxis, dass ein Leib auf Erden ist, dessen Einheit die Grundlage des Segens ist – eine Einheit, die zu bewahren jedes Christen Pflicht ist. Der Eigenwille mag es sich anders wünschen, sicherlich aber nicht die Gnade und der Gehorsam gegenüber dem Wort.

Gewiss, es mögen sich Schwierigkeiten ergeben, und wir haben nicht mehr ein apostolisches Zentrum in Jerusalem. Sehr richtig. Aber wir haben ein Hilfsmittel: Der Geist wirkt in der Einheit des Leibes, wir haben die Wirksamkeit der heilenden Gnade und der hilfreichen Gabe, und wir haben die Treue eines gnädigen Herrn, der uns verheißen hat, uns nie zu verlassen. Aber der Fall von Jerusalem in Apostelgeschichte 15 ist ein Beweis dafür, dass die schriftgemäße Kirche nie daran dachte, eine unabhängige Handlung anzuerkennen. Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes war in der Einheit des Leibes, und dort ist sie immer. Die Handlung, auf die der Apostel die Gläubigen in Korinth hinweist (die für uns als das Wort Gottes bindend ist), war in Bezug auf die ganze Versammlung Gottes wirksam, und alle werden in den Anfangsversen des Briefes angesprochen. Wird sich jemand anmaßen zu sagen, dass, wenn die Person in Korinth richterlich hinausgetan wurde, jede Versammlung für sich zu urteilen hatte, ob sie die Person aufnehmen wollte oder nicht? Dies würde bedeuten, dass jener Akt der Zucht in nichts zerrinnen würde, da er nur in Korinth wirksam war, während Ephesus oder Kenchrea taten, was sie wollten. Wo war dann der ernste Akt, wo die Anweisung des Apostels? Nun, diese Autorität und diese Anweisung sind das Wort Gottes für uns.

Ich bin mir wohl bewusst, dass gesagt werden mag: Ja, aber dieses Wort mag nicht richtig befolgt werden, da das Fleisch tätig sein kann. Gewiss, das ist möglich. Es besteht die Möglichkeit, dass das Fleisch handelt. Aber ich bin ganz sicher, dass das, was die Einheit der Versammlung leugnet, was sie auflöst und in einzelne unabhängige Körperschaften umformt, die Auflösung der Versammlung Gottes bedeutet, dass dies völlig schriftwidrig und nichts als Fleisch ist. Daher verurteile ich dies, ehe ich auch nur einen Schritt weitergehe.

Aber für den demütigen Geist gibt es, wie ich gesagt habe, in der Hilfe des Heiligen Geistes, der in der Einheit des Leibes wirkt und in der treuen Liebe und Sorgfalt des Herrn, ein kostbares Hilfsmittel; aber das Hilfsmittel ist nicht in dem zu suchen, was sich selbst an die Stelle Christi setzt und die Versammlung Gottes verleugnet. Meine Antwort in dieser Frage ist also die, dass dieser Vorwand nur eine erbärmliche Spitzfindigkeit ist, die Unfehlbarkeit mit göttlich verordneter Autorität verwechselt, und dass das ganze System, das solch einer Fragestellung zugrunde liegt, nur der anmaßende Geist der Unabhängigkeit und eine Verwerfung der ganzen Autorität der Schrift bezüglich ihrer Lehre über die Versammlung ist – ein Einsetzen des Menschen an die Stelle Gottes.


Originaltitel: „Das Recht auf ein eigenes Urteil“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 38, 1984, S. 278–283

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