Drei Lebensphilosophien
Carpe diem?

Charles Henry Mackintosh

© CSV, online seit: 25.12.2005, aktualisiert: 04.01.2024

Leitverse: Psalm 39,7.8

Ps 39,7.8: Ja, als ein Schattenbild geht der Mensch umher; ja, vergebens ist er voll Unruhe; er häuft auf und weiß nicht, wer es einsammeln wird. Und nun, worauf harre ich, Herr? Meine Hoffnung ist auf dich!

„Worauf harre ich, Herr?“ Das ist eine sehr erforschende Frage für das Herz; und es ist oft sehr heilsam, sie sich zu stellen, denn immer wieder ertappen wir uns dabei, dass wir Dinge herbeisehnen, die es gar nicht wert sind, dass man sich nach ihnen ausstreckt.

Das menschliche Herz gleicht sehr dem armen Gelähmten an der Pforte des Tempels in Apostelgeschichte 3. Jedem Vorübergehenden blickte er erwartungsvoll entgegen, „in der Erwartung, etwas von ihnen zu empfangen“. Das Herz wird immer in den wechselnden Umständen nach irgendeiner Erleichterung, irgendeinem Trost oder irgendeiner Freude Ausschau halten. Immer wieder wird es sich dem Strom der Natur zuwenden, in der vergeblichen Hoffnung, irgendeine Erfrischung daraus zu bekommen.

Es ist erstaunlich, auf welche nichtigen Kleinigkeiten das menschliche Herz zuweilen seine Hoffnungen richtet: auf eine Änderung der Umstände, auf eine Veränderung des Wohnsitzes, eine Luftveränderung, eine Reise, einen Besuch, einen Brief, ein Buch – alles das oder Ähnliches erweckt Erwartungen in der Seele, die nicht ihren Mittelpunkt und ihren Ursprung in Christus haben, und es offenbart nur, dass Christus nicht alles für die Seele ist.

Es ist daher wirklich wichtig, unseren Herzen oft diese Frage zu stellen: „Worauf harre ich?“ Eine ehrliche Antwort auf diese Frage wird selbst gereiften Christen Anlass zu tiefer Demütigung und zum Selbstgericht vor dem Herrn geben.

Der 7. Vers des 39. Psalms zeigt uns mit den Ausdrücken

  1. „Schattenbild“,
  2. „voll Unruhe“
  3. „aufhäufen“

drei Charakterzüge. Bei manchen Menschen mögen sie auch vereint vorhanden sein, aber sehr oft entwickelt sich in dem Menschen der eine oder andere Charakterzug besonders stark.

  1. Es gibt viele Menschen, deren Leben einem Schattenbild oder einer „eitlen Schau“ gleicht, sei es, dass man sie in ihrem persönlichen Charakter oder in ihrer geschäftlichen Stellung, in ihrer politischen Verbindung oder ihrem religiösen Bekenntnis betrachtet. Sie haben nichts Solides, nichts Wirkliches, nichts Wahres. Einer hauchdünnen Vergoldung gleich ist ihr Glanz nur sehr oberflächlich. Nichts ist wirklich tief, nichts wesentlich. Alles ist oberflächlich – alles Schall und Rauch – eben nur ein „Schattenbild“.[1]

  2. Dann wieder finden wir eine andere Klasse, deren Leben beständig und vergebens „voll Unruhe“ ist. Sie kommen nie zur Ruhe, sind nie befriedigt, nie glücklich. Immer erwarten sie irgendetwas Furchtbares, irgendeine kommende Katastrophe, und der bloße Gedanke daran hält sie beständig in Furcht. Sie machen sich Sorgen um ihren Besitz, ihre Freunde, ihren Handel, ihre Kinder, ihre Angestellten. Obwohl sie in Umständen sein mögen, die Tausende ihrer Mitgenossen als beneidenswert ansehen, scheinen sie selbst in beständiger Aufregung zu sein. Sie quälen sich mit Sachen ab, die nie kommen mögen, mit Schwierigkeiten, die ihnen nie begegnen, mit Sorgen, die sie nie erleben mögen. Anstatt sich der Segnungen in der Vergangenheit zu erinnern und der Barmherzigkeiten Gottes in der Gegenwart zu erfreuen, erwarten sie für die Zukunft nur Übungen und Sorgen. Mit einem Wort, sie sind „vergebens voll Unruhe“.

  3. Schließlich finden wir noch eine dritte Klasse, die sich von jeder bisher genannten unterscheidet. Es handelt sich um fleißige und scharfsinnige Leute, die Geld zu verdienen verstehen, um Leute, die gerade dort leben wollen, wo andere verhungern würden. Sie tragen nicht viel Eitelkeit zur Schau, dazu sind sie zu gediegen, und ihr Leben ist für derlei zu sehr eine praktische Wirklichkeit. Auch kann man von ihnen nicht sagen, dass sie viel in Unruhe sind. Sie werden vielmehr von einem arbeitsamen, tätigen Geist beherrscht, der stets etwas unternimmt und neue Möglichkeiten ersinnt. „Er häuft auf und weiß nicht, wer es einsammeln wird.“

Aber beachten wir es: Über alle drei hat der Heilige Geist das gleiche Wort geschrieben: „Eitelkeit“. Ja, „alles unter der Sonne“, ohne irgendeine Ausnahme, ist damit von jemand beschrieben worden, der es aus Erfahrung kennengelernt und durch Inspiration niedergeschrieben hat. Nach all seiner Mühe musste Salomo bekennen: „Und siehe, das alles war Eitelkeit und ein Haschen nach Wind“ (Pred 2,11). Du kannst dich „unter der Sonne“ hinwenden, wohin du willst, du wirst tatsächlich nichts finden, worin dein Herz ruhen kann. Du musst dich zu den erhabenen Höhen des Glaubens, zu jenen Regionen „über der Sonne“ erheben, um ein „besseres, das ist himmlisches“ Teil zu finden. Der zur Rechten Gottes sitzt, hat gesagt: „Ich wandle auf dem Pfad der Gerechtigkeit, mitten auf den Steigen des Rechts; um die, die mich lieben, beständiges Gut erben zu lassen und um ihre Vorratskammern zu füllen“ (Spr 8,20.21). Niemand außer dem Herrn Jesus kann ein „beständiges Gut“ geben, niemand außer Ihm kann „füllen“, niemand außer Ihm kann „befriedigen“. Dem tiefsten Bedürfnis des Gewissens wird in dem vollkommenen Werk Christi begegnet, und seine herrliche Person kann das tiefste Verlangen des Herzens stillen und befriedigen. Wer Christus auf dem Kreuz und wer Christus auf dem Thron gefunden hat, hat alles gefunden, was er überhaupt für Zeit und Ewigkeit begehren kann.

Trefflich kann der Psalmist, nachdem er sein Herz mit der Frage „Auf was harre ich?“ erforscht hat, antworten: „Meine Hoffnung ist auf dich!“ Keine „eitle Schau“, keine „vergebliche Unruhe“, kein „Aufhäufen“ kommt für ihn in Frage. Er hat in Gott einen Gegenstand gefunden, der es wert ist, dass man auf Ihn allein harrt; und deswegen wendet er sein Auge von allem anderen ab und sagt: „Meine Hoffnung ist auf dich!“

Das ist die einzige Stellung, die voller Frieden und Glückseligkeit ist. Nie wird die Seele, die sich auf den Herrn Jesus stützt und auf Ihn harrt, enttäuscht werden. Sie besitzt in der Gemeinschaft mit Ihm eine unerschöpfliche Fundgrube für gegenwärtige Freude; sie wird zur gleichen Zeit mit jener glückseligen Hoffnung erfüllt, dass sie, wenn dieser gegenwärtige Zeitlauf mit all seiner „eitlen Schau“, „vergeblicher Unruhe“ und all seinen eitlen Machenschaften für immer vorüber ist, dort sein wird, wo Er ist, um seine Herrlichkeit zu sehen, um sich in dem Licht seines Angesichts zu erwärmen und seinem Bild auf ewig gleichgestaltet zu sein.

Mögen auch wir es uns zur Gewohnheit machen, unsere erdgebundenen, so oft nach unten gerichteten Herzen mit der erforschenden Frage zu prüfen: „Worauf harre ich?“ Warte ich auf irgendeine Verbesserung der Umstände hier auf Erden oder auf den Sohn Gottes vom Himmel? Kann ich zu dem Herrn Jesus emporblicken und mit vollem und ehrlichem Herzen sagen: „Meine Hoffnung ist auf dich!“?

Möge Gott es schenken, dass unsere Herzen mehr von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf und allem, was zu ihm gehört, getrennt sind – durch die Kraft der Gemeinschaft mit jenen Dingen, die unsichtbar und damit ewig sind!


Originaltitel: „Auf was harre ich?“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 40, 1986, S. 6–10

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: Das sind die heutigen „Lebenskünstler“, die aus jedem Tag „das Beste machen“ wollen nach dem Motto „Carpe diem – Nutze den Tag“.

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